„Gerechtigkeit ist für mich nicht Gleichheit“
Im Haus der Solidarität in Brixen Milland herrscht geschäftiges Treiben, als wir uns zum Gespräch treffen: zwei Praktikantinnen beginnen mit der Essenszubereitung, da sich zu Mittag meist rund 20 Gäste einfinden - am Abend sind es dann schon 30 bis 40.In den höheren Stockwerken wird Wäsche aufgehängt und einige Gäste schauen noch in der Bibliothek der OEW (Organisation für eine solidarische Welt) vorbei, die sich im selben Gebäude befindet. „Wir bieten derzeit Platz für 60 Gäste, auch wenn unser Haus normalerweise für 53 Menschen ausgelegt ist. Aber die derzeitige Notsituation erfordert eine gewisse Flexibilität von uns“, erzählt Camilla Moroder, und damit sind wir schon mitten im Gespräch. Sie hat Sozialarbeit an der Fakultät für Bildungswissenschaften Soziale Arbeit studiert und während eines Praktikums das HdS kennen und lieben gelernt.
„Ich kann hier alle meine Fähigkeiten einbringen, die ich im dreijährigen Studium erlernt habe, von den Kenntnissen der Psychologie über Psychiatrie bis hin zu den Strategien der Gesprächsführung.“
Alle Bausteine des theoretisch erlernten Wissens finden sich hier zu einem großen Ganzen zusammen, wenn es darum geht, Menschen mit psychischen Problemen, Fluchterfahrung oder auch Suchtproblemen zu helfen. Im HdS arbeiten fünf fixe Mitarbeiter*innen, Camilla ist eine von ihnen, die sich vor allem um die sozialarbeiterische Begleitung der Gäste aber auch die Hausverwaltung kümmert. Und auch die Begleitung der Praktikant*innen ist ihr sehr wichtig, denn diese sind eine ebenso willkommene wie wertvolle Hilfe von außen. Dass es sehr oft junge Menschen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz sind, hängt damit zusammen, dass sie sich sehr lange im Voraus informieren und anmelden, auch schon über ein Jahr vorab, weswegen die Anfragen von Student*innen der unibz oftmals zu spät eintrudeln. „Das ist auch ein Appell an alle, sich frühzeitig zu organisieren“, schmunzelt die 28-Jährige.
Wie würden Sie selbst die Arbeit des HdS umschreiben?
„Wir bieten Menschen in schweren Zeiten einen Wohnsitz und Unterkunft und begleiten sie auf ihrem Weg zurück in die Selbstständigkeit“,
könnte die verknappte Antwort lauten. Und dann führt sie aus: „Nur Menschen mit einem Wohnsitz erhalten in unserem Land die notwendigen Dokumente, mit der sie sich für eine Arbeit bewerben können, und diese wiederum ist Voraussetzung für eine eigenständige Wohnung. Aber wir sind viel mehr als das, wir sehen uns auch als Geburtshelfer für Projekte der gesellschaftlichen und sozialen Nachhaltigkeit“, so Moroder.
Das jüngste dieser neuen Projekte ist das „REX – Material und Dinge“ in Brixen, das eine Gruppe engagierter Leute angeregt und für das das HdS die Trägerschaft übernommen hat: in der großen Halle auf dem Gelände einer ehemaligen Kaserne können Menschen Gegenstände abgeben, die sie nicht mehr benötigen, und jedermann kann die Vintage-Stücke gegen eine freiwillige Spende erwerben. Es werden Upcycling-Workshops organisiert, es wurde ein Bastelmateriallager aus Verschnittmaterial und „Abfall” von Betrieben der Umgebung eingerichtet, welches Schulen und Kindergärten angeboten wird, und, noch wichtiger, es werden über das REX Arbeitsintegrationsprojekte für Menschen aus dem HdS gestartet.
„Ein weiteres Beispiel ist das ‚Lyla‘, eine Wohngemeinschaft für psychisch kranke Frauen, die von zwei Krankenpflegerinnen und einer ‚badante‘ begleitet werden“, erzählt Camilla Moroder. Auf die vielen menschlichen Schicksale und auch Härtefälle in ihrer Arbeit angesprochen, die sie tagtäglich begleitet, meint sie: „Man erhält eine hohe Dankbarkeit für das eigene Leben, wie wohlhabend wir sind, so frei von wirklichen Sorgen wie Krieg oder Diktatur.“ Dennoch hat sie sich bewusst dazu entschlossen, ihren Arbeitsplatz ‚nur‘ zu 70% auszufüllen, da sie mit ihrem Partner und einem befreundeten Paar einen Hof gepachtet hat, was ihr einen wertvollen Ausgleich zur Arbeit bietet. „Es ist wichtig, auf die eigene Psychohygiene zu achten, das wurde uns auch im Studium vermittelt. Ich versuche neben den wichtigen Gesprächen mit Kolleg*innen und Familie in der Freizeit Dinge zu tun, die mir Kraft geben.“ Dafür sei die Arbeit in der Natur auf dem Hof genau das Richtige.
Apropos „das Richtige“ – dies zu tun, sei bei der Arbeit nicht immer leicht. Die Entscheidung über die Aufnahme eines Hilfesuchenden aus der Fülle an Anfragen sei beispielsweise ungemein schwierig, „und natürlich machen wir auch manchmal Fehler. Ich denke dann aber stets an meine eigene Mutter, die uns Kindern sagte, dass man nur aus Fehlern lernen könne. Und so ist es, das sind die besten Lernprozesse.“
Die Grödnerin selbst hat viel im Studium und den damit verbundenen zwei Praktika gelernt. Das eine absolvierte sie eben im HdS, das zweite in Australien bei einer Flüchtlingseinrichtung. „Australien hat eine äußerst restriktive Flüchtlingspolitik, wer aber ins Land darf, erhält eine sehr großzügige Unterstützung. Von außen betrachtet wäre es vielleicht besser, mehr Leute aufzunehmen, die dafür jeweils etwas weniger Zuwendungen erhalten könnten“, reflektiert sie. Was sie als herausragende Erinnerung an das Praktikum in Übersee mitnimmt, war der landesweit funktionierende Telefonübersetzerdienst kurz TIS (Telephone Interpreter Service): eine nicht englischsprachige <Person landet beispielsweise im Krankenhaus, der behandelnde Arzt rief den Dienst an, stellte auf laut und das Gespräch zwischen Patienten und Arzt konnte beginnen. „Damit konnten alle Dienste Australiens mit Menschen aller Sprachen sprechen, und den zugeschalteten Übersetzern bot es eine Einkommensquelle.“
Das Haus der Solidarität hat es sich zum Ziel gesetzt, für die Menschen einen Ort der Ruhe und des ersten Ankommens zu schaffen. Alle helfen beim Kochen und Abwasch mit und das Team versucht, durch Regeln auch zu gewährleisten, dass alle sich wohl fühlen - wer Gewalt anwendet, egal ob physischer oder psychischer Natur, muss das Haus am selben Tag verlassen.
„Darüber hinaus geben wir durch unsere Arbeitsintegrationsprojekte auch Gästen Rückhalt, die zurück in die Arbeitswelt wollen; das ist bei Personen, die beispielsweise einen Gefängnisaufenthalt hinter sich haben, äußerst wichtig. Am wichtigsten bleibt es aber, sie bei der Schwierigkeit zu unterstützen, eine Wohnung zu finden – das liegt leider ganz oft am Namen und dem Herkunftsland.“
Sehr aktiv ist das Team des Hauses der Solidarität auf den Sozialen Medien, wo ungeschönt und immer mit Rücksicht auf die Privacy vom Alltag im Haus und seiner Bewohner*innen berichtet wird. „Wir erleben jetzt mit Freude die riesige Solidarität, die den Vertriebenen aus dem Ukraine-Krieg entgegengebracht wird. Nur würden wir uns wünschen, dass diese auch gezeigt wird, wenn die Hautfarbe eine andere als die unsere ist.“ Fünf Jahre ist Camilla Moroder nun schon im Haus der Solidarität tätig. Was sie sich für die Zukunft wünscht?
„Dass Gerechtigkeit herrscht, was für mich nicht Gleichheit bedeutet, denn jeder Mensch ist anders, und manchmal benötigt jemand auch mehrere Chancen, um sein Leben zu meistern.“
(vic)